Dr. Siegfried Fischer

Von Lissabon bis Wladiwostok: Der geografische Impetus

Von Lissabon bis Wladiwostok: Der geografische Impetus

Der eurasische Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok war und ist hart umkämpft. Noch vor der Corona-Pandemie gerieten hier die Volkswirtschaften zwischen „America First“ und „One Belt, One Road“ unter Druck. Aber wo liegt für deutsche Firmen das eigene Interesse?

In der deutschen Außenhandelsbilanz liegt Russland mit rund 57,8 Milliarden Euro auf Platz 13, im Saldo jedoch mit minus 4,7 Milliarden Euro auf Platz 232. Und eines ist jetzt schon klar: Die Corona-Folgen werden nicht nur diese Exporte sinken lassen. Oder anders ausgedrückt: Etwa 45 Prozent der mittelgroßen deutschen Firmen sind existenzgefährdet.

Gut 4.000 deutschen Firmen sind derzeit in Russland aktiv. Der Corona-Stillstand dürfte auch sie schädigen. Andererseits sind die unter der neuen russischen Regierung initiierten wirtschaftlichen Förder- und Entwicklungsprogramme mit dem Blick auf die Überwindung der Krisenfolgen ein echtes Angebot insbesondere auch für deutsche KMU, die nicht in die US-amerikanischen und chinesischen Mühlen geraten wollen.

Hier lohnt ein Blick in die Außenhandelsbilanzen des vergangenen Jahres, die Deutschlands Abhängigkeiten sehr gut zeigen: 2019 gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den USA mit einem Außenhandelsumsatz von zirka 190 Milliarden Euro auf der einen Seite und China mit einem Außenhandelsumsatz von 205,7 Milliarden Euro auf der anderen Seite. Zugleich konnte die deutsche Wirtschaft im Saldo gegenüber den USA ein Plus von rund 47 Milliarden Euro verzeichnen, gegenüber China stand ein Minus von 13,7 Milliarden Euro.

Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass die massiven Eingriffe der USA in die Weltwirtschaft – sei es durch Zölle, Sanktionen oder Boykotte von internationalen Regularien – im Gefolge der aktuellen Wirtschaftskrise nicht weniger werden. Zugleich wird das coronageschädigte China seinen politisch implementierten wirtschaftlichen Aufschwung nicht ohne neue expansive Praktiken verfolgen. Beide Global Player werden ihren eigenen Weg durch die pandemische Weltwirtschaftskrise finden. Für beide ist der eurasische Wirtschaftsraum unverzichtbar – jedoch vorrangig als Lieferant und Absatzmarkt. Und je gespaltener, desto besser.

Darauf muss Europa, müssen deutsche Firmen eine Antwort finden. Leider gibt es von Lissabon bis Wladiwostok kein gebündeltes Vorgehen, weder zur Entwicklung eines Binnenmarktes, noch zum Schutz gemeinsamer außenwirtschaftlicher Interessen. Selbst in dem von der EU geprägten westlichen Randgebiet Eurasiens offenbaren sich im Corona-Schlaglicht gefährliche Schwachstellen und Risse in den wirtschafts- und finanzpolitischen Regularien zwischen den Nord- und Südstaaten sowie den osteuropäischen Neuzugängen, ganz zu schweigen von der anhaltenden Ausgrenzung Russlands als eurasischem Brückenstaat.

Im wohlverstandenen eigenen wirtschaftlichen Interesse muss hier eine Kehrtwende erfolgen. Die Politik muss dem geografischen Impetus des eurasischen Wirtschaftsraums endlich folgen. Denn die Wirtschaft und die Menschen sind dazu bereit, wie eine Forsa-Umfrage vom März diesen Jahres zeigt: So sprachen sich 55 Prozent für eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland aus und 61 Prozent gaben zugleich an, für eine engere Zusammenarbeit der EU mit den östlichen Nachbarn zu sein – im Rahmen eines gemeinsamen Wirtschaftraums von Lissabon bis Wladiwostok. Es ist Zeit zu handeln.

Dr. Siegfried Fischer
Russlandbeauftragter des Bundesforums Mittelstand e.V.

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